Wechselbereitschaft und das Gegenmittel: Bindung
Die Bindung an ein Unternehmen verringert sich. Im Zusammenhang mit Fachkräftemangel und bevorstehenden Aufgaben der Digitalisierung (inkl. KI-Anwendungen) erzeugt ein explosives Gemisch – besonders für MINT-Branchen und MINT-Teams. In meinem vorangehenden Beitrag habe ich das ausführlicher behandelt.
Wie kann Bindung nicht nur sozialtechnisch erhöht werden, sondern wirksam nachhaltig. Dazu muss man etwas tiefer schauen. Das werde ich hier anbieten. Die bevorstehenden Feiertage erlauben vielleicht, diesen Gedanken vollständig zu folgen. Im vollständigen Beitrag lesen Sie auch von meinen eigenen Erfahrungen als Coach mit diesem Thema.
Ziel: Digitalisierung erfolgreich
Die Prozesse, die mit der Digitalisierung verbunden sind, brauchen einen stabilen Mitarbeiter/innen bestand (kein weiteres Gendern in diesem Artikel). Der Bedarf an IT-kompetenten Fachkräften ist immens. Besondere Hoffnungen werden auf die Generationen Y und Z gelegt, die sogenannten digitale natives I und II, Jahrgänge ab 1996.
Wechselbereitschaft: Trotz angespannter wirtschaftlicher Lage in Deutschland ist jeder Zweite der sogenannten GenZ wechselbereit. Mit 49 Prozent ist die Altersgruppe dabei deutlich offener für einen Jobwechsel als der Durchschnitt der Beschäftigten in Deutschland (37 %) (Klaffke 2022). Eine jüngere Studie (siehe mein vorangehender Beitrag) zeigt, dass die Zahl 49% sich seit 2022 eher erhöht hat.
Sich eingehender mit den Ursachen befassen, als es sonst in den Publikationen zu “social engineering” geschieht, ist nötig, um die richtigen, tief genug greifenden Maßnahmen einzuleiten. Ziel könnte es sein, Teams stabiler zu machen, indem man die Bindung von Mitarbeiter/innen steigert – und das sogar bei allen Generationen!
Das Rezept: Zu lesen ist wiederholt: Gen Y/Z Wert auf offene Kommunikation, Transparenz und die Möglichkeit, ihre Meinung einzubringen. Es wird geraten, Feedback zu geben und Mitarbeiter/innen an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Wird es genügen, eine Kultur der „Transparenz“, des Feedback und der Einbeziehung zu proklamieren? Zugespitzt: Sind “soziale Gimmicks” wie ein Barista oder der nach Gummi riechende Spielplatz einer Carrera-Rennbahn valide Maßnahmen, um Bindung zu steigern? Ich wiederhole: Man heuert bei einem Unternehmen an, verlassen tut man seinen Chef.
Was also braucht es, um Bindung zu erhöhen? Was bindet? Wodurch fühlen sich besonders die jüngeren Generationen mehr “am richtigen Platz”?
Woher kommt die Wechselbereitschaft?
Das Abnehmen der Bindung hat soziologische und psychologische Gründe. Ein Blick über den nationalen Tellerrand hilft da schon – ebenso wie aufzufrischen, dass die Bedeutung von Familie als Lebensmodell in unseren westlichen Breitengraden zurückgeht.
Besser verstehen hilft in der Regel. Schauen wir uns die Realitäten in drei Zeiten an:
Vergangenheit:
Gen Z ist die erste Generation, die mit dem Vorhandensein von Smartphone und Tablet aufgewachsen ist. Das betrifft den Umgang mit diesen Geräten und das Nutzen von social media. Vorher schon aber waren Mama und Papa oft mit diesen Geräten beschäftigt, statt in Verbindung mit ihrem Kind zu sein.
Schon 2015 teilte das statistische Bundesamt mit: Die Zwei-Kind-Familie ist die häufigste. Doch immer mehr Kinder wachsen in Deutschland als Einzelkind auf. Jedes vierte Kind in Deutschland wächst ohne Geschwister auf. Von den 13 Millionen Minderjährigen seien im Jahr 2014 26% Prozent Einzelkinder gewesen. Etwa in der Hälfte der deutschen Haushalte lebt nur ein Kind. Studien haben gezeigt, dass Einzelkinder als Erwachsene sogar besonders selbstständig waren. Durch die große Aufmerksamkeit, die Einzelkinder zwangsläufig bekommen, lernen sie früher sprechen, machen einen höheren Bildungsabschluss, sind beruflich erfolgreicher und haben einen höheren IQ.
Eine der Folgen aus dieser veränderten Gesamtlage der Sozialisation ist ein anderer Realitätsbezug: Ich oder Wir? Und: Internet oder Abenteuerspielplatz? Erläuterung: Was ist der Unterschied zwischen einem Facebook-Freund und einem traditionellen Freund? Wer wird beim Umzug helfen?
Zukunft und Gegenwart:
Generell haben Menschen heute mehr Grund, um ihre Zukunft besorgt zu sein. Umso mehr, wenn das Gefühl für Realität zwiegespalten ist. Das Internet ist eine konstruierte Realität. Je mehr man seine Informationen aus indirekten Quellen bezieht, desto eher ist man irritiert, wenn wirkliche Menschen mit ihren Sichtweisen und Bedürfnissen auftreten.
So wird die grundsätzlich zu befürwortende Suche nach sinnvoller Arbeit zu einem zentralen Wert. So gewinnen Themen wie die bedrohte Zukunft unseres Planeten leicht eine zentrale Bedeutung.
Kulturelle Spezifika
Die Bedeutung der Sozialisation wird durch einen Vergleich mit anderen Kulturen deutlich: Der CEO eines mir bekannten high-tec Unternehmens beschäftigt eine ganze Reihe von Mitarbeiter/innen aus Osteuropa. Co-Kreativität spielt hier eine bedeutende Rolle, d.h. die Bereitschaft sich vertrauensvoll mit Kollegen zu verbinden. Diese Mitarbeiter/innen haben eine andere Sozialisation erfahren als gut situierte Mittelschichtskinder in DACH. Vor allem sind sie eher vertraut mit existenziellen Unsicherheit und damit wohl stressresistenter oder gar resilienter.
Familie II als Bindungsfeature?
Sicher geht es bei den Sicherheitsbedürfnissen der jüngeren Generationen nicht darum familiäre Geborgenheit zu bieten. Ein Unternehmen hat einen Zweck, und für diesen Zweck leisten Mitarbeiter/innen und Führungskräfte ihren Beitrag. Und die jüngeren Generationen wollen einen Beitrag zu etwas Sinvollem/ Größeren leisten, wie ich aus vielen Coachings weiß. Dazu ist aber vertrauensvolles Miteinander erforderlich. Die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen, die weniger anonym-funktional erwartet werden, ist dafür bedeutsam – mehr als Gen X zu akzeptieren noch bereit war.
Coaching-Erfahrungen
Ich benutze ein Instrument zur Bestimmung der aktuellen Werteprioritäten bei Führungskräften und höherqualifizierten Fachkräften, den Leistungsträgern eines Unternehmens. Es handelt sich um das VMI (Values Management Inventory). Bei einem meiner Kunden habe ich einen auffällig hohen Prozentsatz für den Wert “expressiveness/joy” ausgewertet – die Freude daran, sich frei zu äußern und gemeinsam (ko-creativ) zu entwickeln.
Eine weitere Beobachtung ist ein Werte-Gap in Stufe 5 des Modells: sich mit anderen persönlich vertrauensvoll zu verbinden. Gap bedeutet, dass hier eine auffälliges “Desinteresse” besteht, sich auf reale Kontakte einzulassen. Menschen werden eher als Leistungsbringer („Human Resource“) betrachtet. Wir haben diesen Begriff ja gern als „HR“ aus der US-Welt übernommen.
Und hier zu guter Letzt und vorsichtig formuliert: ein höherer und ausschließenderer ICH-Bezug. Dieser wäre als Regression natürlich, wenn es vor allem ums Überleben geht oder extremer persönlicher Stress vorliegt. Als normaler lifestyle kommt es in der Arbeitswelt natürlich zu Konflikten.
“Company-Erfahrungen”
Vielleicht folgen Sie mir auch noch in den letzten Ausflug der Betrachtung: die Realität unserer Unternehmenswelt. Er ist bedeutsam für das Verständnis von Bindung.
Viele anspruchsvollere Mitarbeiter aus Konzernen wechseln zu übersichtlicheren KMU. Ist das nur Sentimentalität? Ihre Erfahrung mit Großunternehmen ist häufig die einer AG = anonyme Gesellschaft: man hat seine Rolle und soll in dieser Rolle funktionieren (Führungsstil managerial).
Der deutsche Philosoph und Ur-Soziologe Ferdinand Tönnies schrieb, dass es „ohne Wollen auch kein Handeln gibt“. Die Grundlage sozialer Beziehung bildet bei Tönnies die Bejahung, d.h. die Überzeugung, dass der Mensch zur Aufnahme von Verbindung mit anderen Menschen von Natur aus geneigt ist: (Wikipedia) Wie wird das in zahlenorientiert gemanagten Unternehmen gehandhabt? In der Regel managerial.
Und – nur als Randbemerkung: Wie sehr ist diese “Natur” heute modifiziert durch Vereinzelung und virtuelle Ersatz-Realität?
Was wäre zu tun, um so attraktiv zu sein, dass Bindung automatisch gestärkt ist: “unverlassbar”!
Ich lasse Tönnies selbst zu Wort kommen: zwei grundlegend unterschiedliche Formen des menschlichen Zusammenlebens gibt es. Gemeinschaften sind organisch gewachsene Systeme, Gesellschaften dagegen künstlich geschaffene. Beide gehen auf unterschiedliche Willensformen zurück. Der Wesenwille erschafft Gemeinschaft, der Kürwille Gesellschaft. Wesenwille drückt sich als Handeln nach Instinkt, Gefühl, Gewohnheit und Tradition aus. Zweck und Mittel bilden eine Einheit, wie etwa handwerkliche Traditionen, und haben stets auch ihren Eigenwert.
Der Kürwille erschafft Gesellschaft, er impliziert zweckrationales Handeln, ordnet die Mittel den Zwecken unter, stellt ein grundsätzlich instrumentales Verhältnis zur Welt her und agiert mit analytischen Verstandesleistungen wie Bedacht, Beschluss, Begriff. (Volker Kruse: Geschichte der Soziologie. 3. Auflage, UVK, Konstanz und München 2018, ISBN 978–3‑8252–4936‑6, S. 123 f.)
Was sagt uns das für Mitarbeiter/innen-Bindung?
- Wenn Sie den leicht zugänglichen und durchaus richtigen Empfehlungen folgen, sollten Sie besser auch die tieferen Hintergründe begreifen. Es wird dann wirksamer und nachhaltig. Unternehmen sollten eine offene Kommunikationskultur schaffen, in der Mitarbeiter ermutigt werden, ihre Meinungen und Bedenken zu äußern. Sind Führungskräfte dafür wirklich offen?
- Zudem ist es wichtig, regelmäßige Feedbackgespräche zu führen und ein offenes Ohr für die Anliegen der Mitarbeiter zu haben. (Andreas Fricke) Sind Führungskräfte dazu bereit?
- Natürlich ist es wichtig, ein entsprechendes Führungsverständnis auch zu fordern. Wie geht das dann in der Umsetzung? Zielkonflikte mit Effizienzdruck gelöst? Schieben Führungskräfte einfach mal den Regler für Emotionale Intelligenz hoch?
Nach meinen Erfahrungen ist das ein persönlicher Entwicklungsprozess, der Erfolgsdruck (Zahlen) mit einer Mitarbeiterorientierung neu verbindet. Persönliche Erfahrungen mit eigenen Kindern mögen auch hineinspielen. Ganz allgemein sind Gen Z die Kinder von Gen X – ein Gedanke, der in manchem Coaching schon eine Rolle gespielt hat.
In meinem nächsten Post werde ich noch mehr über mögliche Vorgehensweisen schreiben.
Nun wünsche ich Ihnen angenehme Restfreizeit – Detachment ist ebenfalls wichtig: Abstand nehmen und alles mal aus einem höheren Flightlevel betrachten.
Mehr auch auf https://coaching.e‑schoelzel.de oder auf meinem youtube-Kanal @EckhardSchoelzel