8
Mai
2024

Wechselbereitschaft/verringerte Bin­dung tie­fer ver­ste­hen

Wech­sel­be­reit­schaft und das Gegen­mit­tel: Bin­dung

Die Bin­dung an ein Unter­neh­men ver­rin­gert sich. Im Zusam­men­hang mit Fach­kräf­te­man­gel und bevor­ste­hen­den Auf­ga­ben der Digi­ta­li­sie­rung (inkl. KI-Anwen­dun­gen) erzeugt ein explo­si­ves Gemisch – beson­ders für MINT-Bran­chen und MINT-Teams. In mei­nem vor­an­ge­hen­den Bei­trag habe ich das aus­führ­li­cher behan­delt.

Wie kann Bin­dung nicht nur sozi­al­tech­nisch erhöht wer­den, son­dern wirk­sam nach­hal­tig. Dazu muss man etwas tie­fer schau­en. Das wer­de ich hier anbie­ten. Die bevor­ste­hen­den Fei­er­ta­ge erlau­ben viel­leicht, die­sen Gedan­ken voll­stän­dig zu fol­gen. Im voll­stän­di­gen Bei­trag lesen Sie auch von mei­nen eige­nen Erfah­run­gen als Coach mit die­sem The­ma.

Ziel: Digi­ta­li­sie­rung erfolg­reich

Die Pro­zes­se, die mit der Digi­ta­li­sie­rung ver­bun­den sind, brau­chen einen sta­bi­len Mitarbeiter/innen bestand (kein wei­te­res Gen­dern in die­sem Arti­kel). Der Bedarf an IT-kom­pe­ten­ten Fach­kräf­ten ist immens. Beson­de­re Hoff­nun­gen wer­den auf die Gene­ra­tio­nen Y und Z gelegt, die soge­nann­ten digi­ta­le nati­ves I und II, Jahr­gän­ge ab 1996.

Wech­sel­be­reit­schaft: Trotz ange­spann­ter wirt­schaft­li­cher Lage in Deutsch­land ist jeder Zwei­te der soge­nann­ten GenZ wech­sel­be­reit. Mit 49 Pro­zent ist die Alters­grup­pe dabei deut­lich offe­ner für einen Job­wech­sel als der Durch­schnitt der Beschäf­tig­ten in Deutsch­land (37 %) (Klaff­ke 2022). Eine jün­ge­re Stu­die (sie­he mein vor­an­ge­hen­der Bei­trag) zeigt, dass die Zahl 49% sich seit 2022 eher erhöht hat.

Sich ein­ge­hen­der mit den Ursa­chen befas­sen, als es sonst in den Publi­ka­tio­nen zu “social engi­nee­ring” geschieht, ist nötig, um die rich­ti­gen, tief genug grei­fen­den Maß­nah­men ein­zu­lei­ten. Ziel könn­te es sein, Teams sta­bi­ler zu machen, indem man die Bin­dung von Mitarbeiter/innen stei­gert – und das sogar bei allen Gene­ra­tio­nen!

Das Rezept: Zu lesen ist wie­der­holt: Gen Y/Z Wert auf offe­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on, Trans­pa­renz und die Mög­lich­keit, ihre Mei­nung ein­zu­brin­gen. Es wird gera­ten, Feed­back zu geben und Mitarbeiter/innen an Ent­schei­dungs­pro­zes­sen zu betei­li­gen. Wird es genü­gen, eine Kul­tur der „Trans­pa­renz“, des Feed­back und der Ein­be­zie­hung zu pro­kla­mie­ren? Zuge­spitzt: Sind “sozia­le Gim­micks” wie ein Baris­ta oder der nach Gum­mi rie­chen­de Spiel­platz einer Car­rera-Renn­bahn vali­de Maß­nah­men, um Bin­dung zu stei­gern? Ich wie­der­ho­le: Man heu­ert bei einem Unter­neh­men an, ver­las­sen tut man sei­nen Chef.

Was also braucht es, um Bin­dung zu erhö­hen? Was bin­det? Wodurch füh­len sich beson­ders die jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen mehr “am rich­ti­gen Platz”?

Woher kommt die Wech­sel­be­reit­schaft?

Das Abneh­men der Bin­dung hat sozio­lo­gi­sche und psy­cho­lo­gi­sche Grün­de. Ein Blick über den natio­na­len Tel­ler­rand hilft da schon – eben­so wie auf­zu­fri­schen, dass die Bedeu­tung von Fami­lie als Lebens­mo­dell in unse­ren west­li­chen Brei­ten­gra­den zurück­geht.

Bes­ser ver­ste­hen hilft in der Regel. Schau­en wir uns die Rea­li­tä­ten in drei Zei­ten an:

Ver­gan­gen­heit:

Gen Z ist die ers­te Gene­ra­ti­on, die mit dem Vor­han­den­sein von Smart­phone und Tablet auf­ge­wach­sen ist. Das betrifft den Umgang mit die­sen Gerä­ten und das Nut­zen von social media. Vor­her schon aber waren Mama und Papa oft mit die­sen Gerä­ten beschäf­tigt, statt in Ver­bin­dung mit ihrem Kind zu sein.

Schon 2015 teil­te das sta­tis­ti­sche Bun­des­amt mit: Die Zwei-Kind-Fami­lie ist die häu­figs­te. Doch immer mehr Kin­der wach­sen in Deutsch­land als Ein­zel­kind auf. Jedes vier­te Kind in Deutsch­land wächst ohne Geschwis­ter auf. Von den 13 Mil­lio­nen Min­der­jäh­ri­gen sei­en im Jahr 2014 26% Pro­zent Ein­zel­kin­der gewe­sen. Etwa in der Hälf­te der deut­schen Haus­hal­te lebt nur ein Kind. Stu­di­en haben gezeigt, dass Ein­zel­kin­der als Erwach­se­ne sogar beson­ders selbst­stän­dig waren. Durch die gro­ße Auf­merk­sam­keit, die Ein­zel­kin­der zwangs­läu­fig bekom­men, ler­nen sie frü­her spre­chen, machen einen höhe­ren Bil­dungs­ab­schluss, sind beruf­lich erfolg­rei­cher und haben einen höhe­ren IQ.

Eine der Fol­gen aus die­ser ver­än­der­ten Gesamt­la­ge der Sozia­li­sa­ti­on ist ein ande­rer Rea­li­täts­be­zug: Ich oder Wir? Und: Inter­net oder Aben­teu­er­spiel­platz? Erläu­te­rung: Was ist der Unter­schied zwi­schen einem Face­book-Freund und einem tra­di­tio­nel­len Freund? Wer wird beim Umzug hel­fen?

Zukunft und Gegen­wart:

Gene­rell haben Men­schen heu­te mehr Grund, um ihre Zukunft besorgt zu sein. Umso mehr, wenn das Gefühl für Rea­li­tät zwie­ge­spal­ten ist. Das Inter­net ist eine kon­stru­ier­te Rea­li­tät. Je mehr man sei­ne Infor­ma­tio­nen aus indi­rek­ten Quel­len bezieht, des­to eher ist man irri­tiert, wenn wirk­li­che Men­schen mit ihren Sicht­wei­sen und Bedürf­nis­sen auf­tre­ten.

So wird die grund­sätz­lich zu befür­wor­ten­de Suche nach sinn­vol­ler Arbeit zu einem zen­tra­len Wert. So gewin­nen The­men wie die bedroh­te Zukunft unse­res Pla­ne­ten leicht eine zen­tra­le Bedeu­tung.

Kul­tu­rel­le Spe­zi­fi­ka

Die Bedeu­tung der Sozia­li­sa­ti­on wird durch einen Ver­gleich mit ande­ren Kul­tu­ren deut­lich: Der CEO eines mir bekann­ten high-tec Unter­neh­mens beschäf­tigt eine gan­ze Rei­he von Mitarbeiter/innen aus Ost­eu­ro­pa. Co-Krea­ti­vi­tät spielt hier eine bedeu­ten­de Rol­le, d.h. die Bereit­schaft sich ver­trau­ens­voll mit Kol­le­gen zu ver­bin­den. Die­se Mitarbeiter/innen haben eine ande­re Sozia­li­sa­ti­on erfah­ren als gut situ­ier­te Mit­tel­schichts­kin­der in DACH. Vor allem sind sie eher ver­traut mit exis­ten­zi­el­len Unsi­cher­heit und damit wohl stress­re­sis­ten­ter oder gar resi­li­en­ter.

Fami­lie II als Bin­dungs­fea­ture?

Sicher geht es bei den Sicher­heits­be­dürf­nis­sen der jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen nicht dar­um fami­liä­re Gebor­gen­heit zu bie­ten. Ein Unter­neh­men hat einen Zweck, und für die­sen Zweck leis­ten Mitarbeiter/innen und Füh­rungs­kräf­te ihren Bei­trag. Und die jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen wol­len einen Bei­trag zu etwas Sinvollem/ Grö­ße­ren leis­ten, wie ich aus vie­len Coa­chings weiß. Dazu ist aber ver­trau­ens­vol­les Mit­ein­an­der erfor­der­lich. Die Qua­li­tät der zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen, die weni­ger anonym-funk­tio­nal erwar­tet wer­den, ist dafür bedeut­sam – mehr als Gen X zu akzep­tie­ren noch bereit war.

Coa­ching-Erfah­run­gen

Ich benut­ze ein Instru­ment zur Bestim­mung der aktu­el­len Wer­te­prio­ri­tä­ten bei Füh­rungs­kräf­ten und höher­qua­li­fi­zier­ten Fach­kräf­ten, den Leis­tungs­trä­gern eines Unter­neh­mens. Es han­delt sich um das VMI (Values Manage­ment Inven­to­ry). Bei einem mei­ner Kun­den habe ich einen auf­fäl­lig hohen Pro­zent­satz für den Wert “expressiveness/joy” aus­ge­wer­tet – die Freu­de dar­an, sich frei zu äußern und gemein­sam (ko-crea­tiv) zu ent­wi­ckeln.

Eine wei­te­re Beob­ach­tung ist ein Wer­te-Gap in Stu­fe 5 des Modells: sich mit ande­ren per­sön­lich ver­trau­ens­voll zu ver­bin­den. Gap bedeu­tet, dass hier eine auf­fäl­li­ges “Des­in­ter­es­se” besteht, sich auf rea­le Kon­tak­te ein­zu­las­sen. Men­schen wer­den eher als Leis­tungs­brin­ger („Human Resour­ce“) betrach­tet. Wir haben die­sen Begriff ja gern als „HR“ aus der US-Welt über­nom­men.

Und hier zu guter Letzt und vor­sich­tig for­mu­liert: ein höhe­rer und aus­schlie­ßen­de­rer ICH-Bezug. Die­ser wäre als Regres­si­on natür­lich, wenn es vor allem ums Über­le­ben geht oder extre­mer per­sön­li­cher Stress vor­liegt. Als nor­ma­ler life­style kommt es in der Arbeits­welt natür­lich zu Kon­flik­ten.

“Com­pa­ny-Erfah­run­gen”

Viel­leicht fol­gen Sie mir auch noch in den letz­ten Aus­flug der Betrach­tung: die Rea­li­tät unse­rer Unter­neh­mens­welt. Er ist bedeut­sam für das Ver­ständ­nis von Bin­dung.

Vie­le anspruchs­vol­le­re Mit­ar­bei­ter aus Kon­zer­nen wech­seln zu über­sicht­li­che­ren KMU. Ist das nur Sen­ti­men­ta­li­tät? Ihre Erfah­rung mit Groß­un­ter­neh­men ist häu­fig die einer AG = anony­me Gesell­schaft: man hat sei­ne Rol­le und soll in die­ser Rol­le funk­tio­nie­ren (Füh­rungs­stil mana­ge­ri­al).

Der deut­sche Phi­lo­soph und Ur-Sozio­lo­ge Fer­di­nand Tön­nies schrieb, dass es „ohne Wol­len auch kein Han­deln gibt“. Die Grund­la­ge sozia­ler Bezie­hung bil­det bei Tön­nies die Beja­hung, d.h. die Über­zeu­gung, dass der Mensch zur Auf­nah­me von Ver­bin­dung mit ande­ren Men­schen von Natur aus geneigt ist: (Wiki­pe­dia) Wie wird das in zah­len­ori­en­tiert gema­nag­ten Unter­neh­men gehand­habt? In der Regel mana­ge­ri­al.

Und – nur als Rand­be­mer­kung: Wie sehr ist die­se “Natur” heu­te modi­fi­ziert durch Ver­ein­ze­lung und vir­tu­el­le Ersatz-Rea­li­tät?

Was wäre zu tun, um so attrak­tiv zu sein, dass Bin­dung auto­ma­tisch gestärkt ist: “unver­lass­bar”!

Ich las­se Tön­nies selbst zu Wort kom­men: zwei grund­le­gend unter­schied­li­che For­men des mensch­li­chen Zusam­men­le­bens gibt es. Gemein­schaf­ten sind orga­nisch gewach­se­ne Sys­te­me, Gesell­schaf­ten dage­gen künst­lich geschaf­fe­ne. Bei­de gehen auf unter­schied­li­che Wil­lens­for­men zurück. Der Wesen­wil­le erschafft Gemein­schaft, der Kür­wil­le Gesell­schaft. Wesen­wil­le drückt sich als Han­deln nach Instinkt, Gefühl, Gewohn­heit und Tra­di­ti­on aus. Zweck und Mit­tel bil­den eine Ein­heit, wie etwa hand­werk­li­che Tra­di­tio­nen, und haben stets auch ihren Eigen­wert.
Der Kür­wil­le erschafft Gesell­schaft, er impli­ziert zweck­ra­tio­na­les Han­deln, ord­net die Mit­tel den Zwe­cken unter, stellt ein grund­sätz­lich instru­men­ta­les Ver­hält­nis zur Welt her und agiert mit ana­ly­ti­schen Ver­stan­des­leis­tun­gen wie Bedacht, Beschluss, Begriff. (Vol­ker Kru­se: Geschich­te der Sozio­lo­gie. 3. Auf­la­ge, UVK, Kon­stanz und Mün­chen 2018, ISBN 978–3‑8252–4936‑6, S. 123 f.)

Was sagt uns das für Mit­ar­bei­ter/in­nen-Bin­dung?

  • Wenn Sie den leicht zugäng­li­chen und durch­aus rich­ti­gen Emp­feh­lun­gen fol­gen, soll­ten Sie bes­ser auch die tie­fe­ren Hin­ter­grün­de begrei­fen. Es wird dann wirk­sa­mer und nach­hal­tig. Unter­neh­men soll­ten eine offe­ne Kom­mu­ni­ka­ti­ons­kul­tur schaf­fen, in der Mit­ar­bei­ter ermu­tigt wer­den, ihre Mei­nun­gen und Beden­ken zu äußern. Sind Füh­rungs­kräf­te dafür wirk­lich offen?
  • Zudem ist es wich­tig, regel­mä­ßi­ge Feed­back­ge­sprä­che zu füh­ren und ein offe­nes Ohr für die Anlie­gen der Mit­ar­bei­ter zu haben. (Andre­as Fri­cke) Sind Füh­rungs­kräf­te dazu bereit?
  • Natür­lich ist es wich­tig, ein ent­spre­chen­des Füh­rungs­ver­ständ­nis auch zu for­dern. Wie geht das dann in der Umset­zung? Ziel­kon­flik­te mit Effi­zi­enz­druck gelöst? Schie­ben Füh­rungs­kräf­te ein­fach mal den Reg­ler für Emo­tio­na­le Intel­li­genz hoch?

Nach mei­nen Erfah­run­gen ist das ein per­sön­li­cher Ent­wick­lungs­pro­zess, der Erfolgs­druck (Zah­len) mit einer Mit­ar­bei­ter­ori­en­tie­rung neu ver­bin­det. Per­sön­li­che Erfah­run­gen mit eige­nen Kin­dern mögen auch hin­ein­spie­len. Ganz all­ge­mein sind Gen Z die Kin­der von Gen X – ein Gedan­ke, der in man­chem Coa­ching schon eine Rol­le gespielt hat.

In mei­nem nächs­ten Post wer­de ich noch mehr über mög­li­che Vor­ge­hens­wei­sen schrei­ben.

Nun wün­sche ich Ihnen ange­neh­me Rest­frei­zeit – Detach­ment ist eben­falls wich­tig: Abstand neh­men und alles mal aus einem höhe­ren Flight­le­vel betrach­ten.

Mehr auch auf https://coaching.e‑schoelzel.de  oder auf mei­nem you­tube-Kanal @EckhardSchoelzel

Über Eckhard Schölzel
Dipl. Psych. (Führungs-, Kooperations- und Kommunikations-Psy.), zertifizierter Werte-Coach (VMI), TMS-Master. Seit 1984 Trainer, Coach, Berater zur Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung; Coach/Trainer für „Lebensbalance“; Seite 1995 Unternehmer E.S.&Partner, Management Development in Internat. Konzernen und Mittelstand. Führungs- und Organisationsentwicklung für technologische Spitzenforschung (THs)